TANGO ARGENTINO
 ULRIKE & ECKART HAERTER

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Homero Manzi Portrait Homero Manzi


Der folgende Text erschien 1999 als Vorwort zur 1.Auflage unseres Homero-Manzi-Buchs "Ecken in Buenos Aires".

Göttingen, Dezember 2011        Eckart Haerter


Homero Manzi (Homero Nicolás Manzione) wurde am 1.11.1907 im Dorf Añatuya in der nordargentinischen Provinz Santiago del Estero geboren. Er starb am 3.5.1951 in Buenos Aires. Manzi war Dichter, Schriftsteller, Journalist und auch politisch tätig. Zweimal (bis zu seinem Tod) Präsident der SADAIC, der argentinischen Autoren- und Komponistenvereinigung. Er hinterliess hunderte Zeitungsartikel, Rundfunkprogramme, 2 Theaterstücke, 25 Drehbücher und 190 Texte von Tangos, Valses und Milongas. Homero Manzi kämpfte für den Erhalt und die Pflege der argentinischen Volkskultur.

Sein Motto: „Ich stelle mich gegen die Erniedrigung des Menschen.“

Recordando tiempos viejos
de un Buenos Aires perdido,
de un Buenos Aires perdido,
quiero sacar del olvido
cosas y nombras de ayer.

In Erinnerung alter Zeiten
eines verlorenen Buenos Aires,
eines verlorenen Buenos Aires,
will ich dem Vergessen entreissen
Dinge und Namen von gestern.

(Homero Manzi: Beginn der Milonga Recordando - In Erinnerung)


Homero Manzi, einer der ganz grossen Tango-Poeten, der in Buenos Aires geliebt wird wie kaum ein zweiter, ist vielleicht der sanfteste und gefühlvollste aller Tango-Textdichter. Die Dichtungen von Homero Manzi und die seines Freundes Enríque Santos Discépolo, beide auf gleich hohem dichterischen Niveau, bilden die beiden extremen Enden des Spektrums der Tangolyrik. Manzi phantasievoll-zärtlich, fast versponnen, Discépolo realistisch, hart und illusionslos.

Homero Manzi schuf unsterbliche Tangos, darunter einige der berühmtesten, die zum kulturellen Allgemeingut der Menschen am Rio de La Plata gehören, wie Sur, Barrio de Tango, Ché Bandoneón und Malena.

Manzi zeichnet mit seinen Tangotexten ein genaues, vielleicht ein bisschen zu verklärtes Bild des Vorstadt-„Barrios" in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des „Stadtviertels, als Lebens- und Kulturraum“ (wie Reichardt es formuliert hat). Homero Manzi liebt die einfachen Menschen in den Barrios und manchen ihrer skurrilen Typen hat er in seiner Tangodichtung ein Denkmal gesetzt, wie in Betinoti, dem "Alten Blinden" oder in der "Letzten Drehorgel". Auch dem Text von Malena liegt eine reale Person zugrunde.

Zur damaligen Zeit (der zweitgrösste Teil der Einwanderer stammte aus Italien) gehörte das nächtliche Ständchen, die "Serenata", vor dem Balkon der Angebeteten zum beliebten Brauchtum (s. Betinoti, Milonga Sentimental). Die unbeleuchtete Vorstadt, der Mond, der die Oberflächen der riesigen Pfützen in Spiegel verwandelt, der intensive Duft aus üppigen Blumenkübeln in den Innenhöfen, der Klang von "hundert Serenaden", die "Pfiffe an der Strassenecke" und "aus der Ferne die Stimme des Bandoneon", das sind die Zutaten, aus denen sich das "Perfume" der Vorstadt zusammensetzt, das Manzi in seinen Versen besingt.

Überhaupt sind Manzis Tangogedichte nie ausschliesslich Fiktion. Viele seiner Texte haben ihren Ursprung in der persönlichen Erlebniswelt des Dichters. Auch die in Tangotexten verarbeitete Trauer über Todesfälle entstammt seinem persönlichen Umfeld. Viele von Homero Manzis Tangotexten sind daher zugleich so etwas wie Bausteine einer mehr oder weniger verschlüsselten Autobiographie.

Selbstverständlich nimmt auch bei Homero Manzi das im Tango sehr verbreitete Motiv der meist unglücklichen Beziehung zwischen Mann und Frau den grössten Raum ein. Doch sind die Texte, bei denen der Mann sich über den Betrug der herzlosen Frau ausweint, bei Manzi selten (Bandoneon Amigo, Muchacho del Cafetín), und die Schuldzuweisung an die Frau wird nur verhalten ausgesprochen. In Manzis nicht nur traurigen, sondern mitunter depressiven Texten, leidet der Mann unter seiner eigenen Schuld, die ihm den Verlust der geliebten Frau eingetragen hat (De Barro, Abandono, Fruta Amarga), und manchmal gelingt es sogar, dank der grösseren seelischen Reife der Frau, in der Beziehung einen neuen Anfang zu wagen (Alba, Recién).

Aus Homero Manzis Tangogedichten lernen wir ausserordentlich viel über den Tango; über seinen Gefühlsgehalt und wie eng er verwurzelt ist mit dem Boden, auf dem er geboren wurde. Gerade weil Manzi keine Randerscheinung, sondern einer der repräsentativsten Tangodichter ist, hat sein Werk für das Tangoverständnis eine so herausragende Bedeutung. Tango hat mit wahren Gefühlen, mit Leben, Liebe und Tod zu tun. Alles ist echt. Nichts ist Vortäuschung oder Nachahmung. Das macht den Tango so stark und zeitlos. Homero Manzi hat selbst einmal geschrieben, dass er nicht die „Gabe“ besitze, erfundene Geschichten zu erzählen. (vgl. Einleitung zu Barrio de Tango).

Diese Vorbemerkung zu Barrio de Tango ist auch deshalb so interessant, weil man als Deutscher wahrscheinlich eher selten Zugang bekommt zu Aussagen von Tangotextdichtern über ihre eigene Dichtung. Interessant aber insbesondere auch deshalb, weil man hier aus erster Hand erfährt, dass das Gefühl der Traurigkeit, des Verlustes, der Drang, den Blick in die Vergangenheit zu richten, nicht Masche ist, sondern eine echte (kollektive) Empfindung. So wie zum Beispiel auch die deutsche Romantik im 19. Jahrhundert keine Masche gewesen ist, sondern eine geistig-seelische Strömung, die in Musik, Literatur und Malerei ihren Ausdruck gefunden hat.

Dabei ist dieser Hang zur Traurigkeit in einem allgemein tragischen Lebensgefühl auch in Europa nicht unbekannt. Der portugiesische Fado, der das Gefühl des „o gosto de ser triste“, die Lust am Traurigsein, zum Ausdruck bringt, hat viele Parallelen zum Tango, „dieser ungeheuren Lust zu weinen, die uns manchmal überflutet ohne Grund“, wie Homero Manzi es in seinem Tango Che Bandoneón dichterisch ausgedrückt hat.

Der Tango verweigert sich all denen, die ihn nicht wirklich fühlen sondern nur nachmachen. Das ist das grosse Dilemma der Tangointerpretation in unserer Zeit. Nach über zehn Jahren als professioneller Tangolehrer in Deutschland habe ich gelernt, dass es authentisch getanzten Tango ausserhalb Argentiniens und Uruguays nur geben kann, wenn sich Tänzerinnen und Tänzer kompromisslos auf den Tango einlassen. Und damit meine ich: auf die Musik, die Texte und die Partnerin beziehungsweise den Partner. Mit Halbheiten kommt man dem Tango nicht bei. Ein Argentinier (sein Name ist mir entfallen) hat einmal gesagt, um Tanguero zu sein, müsse man auch die aufgerissenen Bürgersteige in Buenos Aires lieben. Da ist viel Wahres dran. Aber wieviele Deutsche mögen es sein, die sich als TangotänzerInnen bezeichnen und nicht einmal den Text von Malena oder Yira Yira kennen und ihr Tango-"Feeling" aus Filmen wie "Tango Lesson" beziehen ?

Man betrachte einmal die Tanzpaare auf einer Milonga (Tanzveranstaltung) in einem Barrio von Buenos Aires, um zu verstehen. Tango hat weder mit Schickeria zu tun, noch ist er geeignet als eitles Spielchen für europäische oder nordamerikanische Wohlstandsbürger, die sonst schon alles gesehen und alles ausprobiert haben.

Selbst auf der schlechtesten Milonga von Buenos Aires, wo im riesigen ungeheizten Saal, während Tango getanzt wird, auf überdimensionaler Leinwand Videos von Boxkämpfen oder Fussballspielen laufen, herrscht mehr Wahrheit und Authentizität als wenn man hierzulande im elaborierten Ambiente Tangoatmosphäre darzustellen versucht. So manche Tango-Show wird vor allem für die Konsumenten in Europa und Nordamerika produziert. Die regelmässig danach zu beobachtenden Nachahmungsversuche führen in die bekannte Sackgasse.

Durch nichts offenbart sich das Wesen des Tangos unmittelbarer als durch seine Texte. Die Texte sind das Fundament auf dem sich die Tangointerpretation aufbaut. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wird Homero Manzi am Rio de La Plata genauso geliebt wie in der esten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Liebe wird heute, über 50 Jahre nach dem Tod des Dichters, auf seinen Sohn Acho Manzi übertragen, der in Buenos Aires ein VIP ist und stellvertretend für seinen Vater gefeiert wird.

Zum 100. Geburtstag Homero Manzis im Jahr 2007 ist in den TANGO PRODUCTIONS von Ulrike und Eckart Haerter eine Sammlung von 100 Tangos, Milongas und Valses erschienen. Das Buch wird in Buenos Aires zu den Feierlichkeiten des Homero-Manzi-Jahres 2007 ausgestellt. Die Sammlung bietet einen repräsentativen Querschnitt durch das Schaffen des grössten argentinischen Tangodichters, dessen Lieder in Buenos Aires und Montevideo lebendig sind wie eh und je. Doch auch in Deutschland gehören Homero Manzis Tangos, Milongas und Valses zu den am meisten getanzten; findet man doch nur wenige CDs, die nicht wenigstens eines seiner Poeme enthalten.

Eckart Haerter


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